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Die neue ISO/IEC/IEEE 26514:2022-01 – erlaubt ist, was funktioniert

Zur Verbindlichkeit von Normen

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Die neue ISO/IEC/IEEE 26514:2022-01 – erlaubt ist, was funktioniert

Auf die ersten zwei Jahre meiner beruflichen Laufbahn bin ich nicht sonderlich stolz. Ich erinnere mich nicht an viel aus dieser Zeit, aber woran ich mich erinnere, ist eine gewisse Unsicherheit in Bezug darauf, was in Dokumentationsprojekten von mir verlangt wird, und eine latente Unzufriedenheit mit den eigenen Ergebnissen, die sich durch das in der Regel ausbleibende Feedback auch nicht in Luft auflösen wollte.

Dies änderte sich schlagartig, als die Beschreibungsgegenstände kleiner und die Zielgruppen realer und damit greifbarer wurden. Auf einmal wusste ich, welche Fragen ich stellen musste, was relevant war und was nicht. Die mich bis dato ausbremsende Verunsicherung schwand und selbst als die zu beschreibenden Produkte wieder größer wurden, ging ich deutlich beschwingter ans Werk als zuvor, angetrieben durch die Erkenntnis, dass ich ja nicht für unsere (feedbackmüden) Auftraggeber schreibe, sondern dass deren Kundinnen und Kunden (potenziell) jederzeit auf mich in Bestform angewiesen sein könnten.

Erst später wurde mir klar, dass der entscheidende Moment in meiner Laufbahn als Redakteur genau derjenige war, als ich realisierte, dass all mein Tun auf die Bedürfnisse der Zielgruppe ausgerichtet sein muss. Das war 2006 – weit vor der DIN EN IEC/IEE 82079-1:2021-09 mit ihren mittlerweile um die 100 Bezügen zum Thema „Zielgruppe“.

Ähnlich grundlegend wie vor 16 Jahren wurde ich auch neulich inspiriert. Und das hatte zum Teil mit meiner Analyse der neuen 26514:2022-01, der überarbeiteten Grundlagennorm für die Konzeption und Erstellung von Nutzerinformationen zu Software und Systemen, die zu Beginn dieses Jahres erschien, zu tun.

 

Die Quintessenzen der neuen 26514 sind die altbekannten

Die 26514 betont, und damit lehnt sie sich vollständig an den Stand der Technik, der Lehre und die Forderungen der 82079-1 an, dass die drei Grundpfeiler für gute Nutzerinformationen folgende sind:

  1. Analyse der Zielgruppen und der von ihnen auszuführenden Tätigkeiten
  2. Ableitung adäquater Informationskonzepte aus 1)
  3. Qualitätssicherung und Validierung der Annahmen aus 2) durch Usability-Checks

Die Norm sensibilisiert einmal mehr dafür, die interdisziplinäre Verzahnung und das damit einhergehende frühzeitige proaktive Stakeholder- und Schnittstellenmanagement nicht zu unterschätzen. Sie bewirbt eindringlich, dass die Entwicklung von Konzepten für Nutzerinformationen am besten parallel zur Entwicklung der Software selbst stattfinden solle (S. vii, 10, 11). Denn natürlich kann die Nutzerinformation gegen Ende oder nach Fertigstellung der Software nicht mal eben nutzerfreundlich integriert werden. Somit kann dieser gut gemeinte Fingerzeig für den ein oder anderen Hersteller, der gerade sein erstes Projekt in diesem Kontext abwickeln möchte, eben doch neu und wertvoll sein.

All das in dieser Form und Explizitheit einmal mehr schwarz auf weiß zu lesen, mag ambitionierten Redaktionen wie Qualitätsmanager:innen zwar dringend benötigten Rückenwind verleihen, was schon auch hilfreich ist auf unser aller Mission und unserem Streben nach besser informierten Nutzerinnen und Nutzern. Als inspirierend fielen mir jedoch andere Aspekte ins Auge.

 

Inspirierende Aspekte der neuen 26514

Insgesamt hat die 26514 im Vergleich zur 82079-1 deutlich mehr in Sachen Entmystifizierung und Operationalisierung der Zielgruppen- und Tätigkeitsanalyse zu bieten. Ein Umstand, der angesichts des globaleren Anspruchs der 82079-1 gleichermaßen verwundert wie in Bezug auf die 26514 wirklich positiv überrascht.

Eines der aus meiner Sicht motivierendsten Highlights der Norm ist, dass in Beispielen für Adressaten von Informationsprodukten mit ganz realen, konkret benannten Zielgruppen gearbeitet wird (Kapitel 6.2.2), die infolgedessen gar nicht mehr so inhomogen und abstrakt erscheinen, wie das beispielsweise bei den weiter verbreiteten undifferenzierten Zielgruppenagglomerationen à la „Fachpersonal“ o. Ä. der Fall ist, die ein wirklich zielgruppenadäquates Beschreiben und Instruieren meist schon von Vornherein unmöglich machen.

Um die potenziellen Zielgruppen möglichst vollständig ermitteln zu können, regt die Norm praxisorientiert an, sich diesen sowohl „bottom-up“ (die diversen anfallenden Use Cases auswertend) als auch „top-down“ (die jeweilige Organisationsstruktur auswertend) zu nähern. Derart systematische Vorgehensweisen sind enorm hilfreich für Kick-off-Veranstaltungen, in denen zu den involvierten Zielgruppen Befragte aufgrund mangelnder Vorstellungskraft sonst eher einsilbig antworten.

Sollte dieser – zugegebenermaßen – Idealzustand der eng einzugrenzenden, homogenen Zielgruppen einmal nicht zur Anwendung kommen können und es gilt, eher heterogene Zielgruppen zu adressieren, dann wartet die Norm mit folgendem praxisnahen Tipp auf: Sie empfiehlt, in solch einem Fall vom „Layering“ Gebrauch zu machen, bei dem stufenweise tiefergehende Inhalte angeboten werden, die nur bei Bedarf (also für die Teile der Zielgruppe, die auf detailliertere Informationen angewiesen sind) beispielsweise durch Verlinkungen oder Aufklappen angesteuert und konsumiert zu werden brauchen.

In Kapitel 8.14 wird mehrwertorientiert dafür geworben, Onscreen-Informationsangebote so zu gestalten, dass sie es ermöglichen, nutzergenerierten Content (Ergänzungen oder Anpassungen bestehender Inhalte, Möglichkeiten der Übermittlung von Feedback) zu kreieren. Der kothes ‚Insight-Report Service 2021‘ bestätigte im Übrigen, dass sich 92 % der befragten Servicekräfte eine Feedbackfunktionen wünschen und 36 % ein Angebot, nutzergenerierten Content erstellen zu können.

Kapitel 9.14.4 plädiert auf für Normen angenehm tolerante Weise dafür, zugunsten von besserer Fokussierung und erleichterter Lokalisierung in Erwägung zu ziehen, ob es anstelle komplexer Screenshots nicht auch nachempfundene, bewusst vereinfachte, womöglich editierbare Nachbildungen derselben sein können. Ein Impuls, für den Leserinnen und Leser, die von selbst nicht auf die Idee gekommen wären oder für die die Legitimation dieser Vorgehensweise bisher noch ausstand, dankbar sein dürften.

 

26514 ­– kaufen oder nicht?

Dieser Blog soll nicht als unbedingte Kaufempfehlung für die neue 26514 (miss-)verstanden werden. Aufgeräumte Redaktionen werden die rund 200 € ohnehin bereits in die Hand genommen haben.

Selbstbewusste Redaktionen werden wiederum berechnend auf einen Kauf verzichten, da sie ihre eigene Kreativität und Kompetenz höher gewichten und von ihren Analysen, Konzepten und Evaluationsergebnissen überzeugt sind. Letzteres ist aus meiner Sicht auch völlig legitim, denn man darf jederzeit besser sein als die Norm und der einzige Gradmesser hierfür sind tatsächlich die Erfolge, die man auf Seiten der Nutzerinnen und Nutzer mit seiner Lösung erzielt hat. Kann man diese Erfolge bei der Zielgruppe also nachweislich für sich verbuchen, ist die Norm, die natürlich nicht nur inspirierende Highlights aneinanderreiht, sondern auch über zähe Passagen voller Banalitäten verfügt, überflüssig.

Die Tech-Riesen haben den Beweis hierfür jedenfalls längst erbracht und verschieben mal eben den State of the Art, ohne auch nur von einer 26514 gehört zu haben: Die Anleitung für meinen neuen Drucker umfasste weniger als eine halbe Seite. Dennoch war er (mithilfe eines wirklich smarten Wizards) in knapp einer Minute eingerichtet.

Unabhängig von der eher pragmatischen Fragestellung, ob und wie ich die Norm im Kolleg:innenkreis bewerben möchte, reifte in mir eine andere, revolutionärere Erkenntnis für den Umgang mit Normen im Allgemeinen, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:

 

Verbindlichkeit von Normen: holistische Analyse, aber lediglich selektive Implementierung

Dass Normen neben hoffnungsfrohen Highlights und erfreulichen Forderungen mit Rückenwindcharakter auch gleichzeitig viel Nichtzutreffendes, Banales, Altbekanntes, Redundantes, zu Restriktives fordern, ist nicht neu. Man könnte jede Norm verreißen, indem man sich nur auf ihre Schwächen konzentriert. Häufig überleben diese Schwächen eine neuerliche Novellierung jedoch ohnehin nicht, warum also Energie darauf verschwenden? Warum das Potenzial einer möglichen Aufbruchstimmung im Sinne kreativerer Ansätze für mehr Zielgruppenorientierung riskieren, indem man das Positive unnötigerweise relativiert oder sich auf Schwächen von Normen fokussiert?

Daher möchte ich Sie ermuntern, Normen zwar ganzheitlich zu studieren, aber beizeiten in den Kontext der Unternehmens-/Abteilungsziele zu setzen und auf Basis einer intern durchgeführten oder extern beauftragten Stärken-und-Schwächen-Analyse zu beratschlagen, welche der ermittelten internen Schwächen z. B. mithilfe von Normenhighlights in Stärken transformiert werden sollen. Die eher schwachen Forderungen einer Norm werden somit (da die eigenen, besseren Lösungen höher zu gewichten sind) zu nicht relevanten Forderungen, die man im Sinne der hehren Ziele besser ignoriert.

Die 26514 beispielsweise legitimiert diese Herangehensweise (in Ansätzen) selbst, indem sie „tailoring“, also das „Maßschneidern auf die eigenen Belange“ (wohl innerhalb gewisser, nicht näher spezifizierter Grenzen) ausdrücklich erlaubt (S. 9).

Diese selektive Umsetzung birgt überwiegend Vorteile, insbesondere:

  • schlankeres Anforderungsmanagement
  • kürzere Innovationszyklen durch schnellere Implementierung weniger aber dafür signifikanter Verbesserungen
  • positiveres Image (von Normen und deren Erstellerinnen und Erstellern, ferner derer, die Rezensionen zu besagten Normen verfassen)

 

Inspiration als Schlüssel für nachhaltiges QM

Diese Verallgemeinerungen und Ableitungen motivierten mich auf vergleichbar grundlegende Weise wie damals im Jahr 2006, da es mir, der ich mittlerweile als Leiter des Qualitätsmanagements tätig bin, einmal mehr (und vielleicht klarer denn je) vor Augen führte, dass erfolgreiches, nachhaltiges Qualitätsmanagement nicht auf Restriktion und Kontrolle, sondern auf Inspiration basiert sein sollte.

Carsten Sieber
Autor:
Blog post Carsten Sieber