"Wir stellen unsere Unternehmenssprache um. Ab dem kommenden Jahr wird Dokumentation bei uns nur noch auf Englisch erstellt."
Eine solche Entscheidung treffen derzeit viele Unternehmen, deren Standorte sich nicht ausschließlich in Deutschland befinden. Die administrativen Vorteile einer gemeinsamen Unternehmenssprache liegen auf der Hand: So stehen allen Mitarbeitern dieselben Unterlagen zur Verfügung, wodurch Missverständnisse vermieden werden können. Es entsteht kein zeitlicher Mehraufwand durch die Übersetzung der internen Dokumentation in die jeweiligen Landessprachen und auch die Kosten für diese Übersetzungsschleife entfallen.
Halt – die Kosten für die Übersetzungsschleife entfallen? An diesem Punkt mussten wir feststellen, dass ein wesentlicher Faktor bei der Rechnung außer Acht gelassen wurde: Die Übersetzung müsste zukünftig aus dem Englischen erfolgen statt wie bisher aus dem Deutschen. Die Translation Memorys sind also noch leer und müssen komplett neu aufgebaut werden – eine potentiell kostspielige Angelegenheit.
Wieso das?
Wer schon einmal ein Angebot für eine technische Übersetzung in den Händen gehalten hat, weiß, dass hier die Abrechnung nach sogenannten Matchklassen üblich ist: Texte, die schon einmal übersetzt wurden und in der zweisprachigen Datenbank, dem Translation Memory (oder kurz "TM"), bereits enthalten sind, werden stärker rabattiert als Texte, die nur in ähnlicher Form bereits übersetzt wurden. Diese wiederum werden stärker rabattiert als Texte, die noch nie übersetzt wurden. Und jetzt wird auch offensichtlich, weshalb hier unerwartete Kosten entstehen: Keiner der neuen englischen Texte wurde bisher übersetzt.
Wir betrachten noch einen weiteren Aspekt: Durch den Einsatz von Stammübersetzern, die sich an vorhandenen Übersetzungen orientieren konnten, hat sich im Laufe der Zeit eine charakteristische Sprache entwickelt, die dokumentübergreifend verwendet wird. Hier spielt einerseits die konsistente Verwendung von Fachterminologie, andererseits aber auch der persönliche Schreibstil der Übersetzerinnen und Übersetzer hinein. Baut man den Bestand nun mit einem veränderten Übersetzerteam neu auf, ist auch die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich dieser Stil verändert.
Wie können wir nun also die Bestände nutzen, die wir bereits haben? Viele Unternehmen verfügen über gut gefüllte TMs aus dem Deutschen in die jeweilige Zielsprache. Es wäre doch schade, diese nicht in irgendeiner Form weiterverwenden zu können!
Dieser Herausforderung haben wir uns gestellt und schnell festgestellt: Das Zauberwort heißt "Relaissprache". Im Prinzip handelt es sich um kein unübliches Vorgehen: Für seltenere Zielsprachen ist die Zahl der Personen, die aus dem Englischen übersetzen, viel höher als die Zahl jener, die aus dem Deutschen übersetzen. So kommt es vor, dass Unternehmen ihre Dokumentation zunächst ins Englische und anschließend ins Koreanische übersetzen lassen – Englisch wird in dem Fall als Relaissprache bezeichnet.
Diesen Weg wählen wir nun auch. Stellen wir uns also vor, das Dokument "Betriebsanleitung KS5000" soll aus dem Englischen ins Französische übersetzt werden. In der Vergangenheit wurde die Dokumentation des Unternehmens aus dem Deutschen in viele verschiedene Zielsprachen übersetzt, so auch ins Französische und Englische. Es liegen also Translation Memorys in den Sprachpaaren Deutsch – Englisch und Deutsch – Französisch vor (oder, um den Gedankengang zu verdeutlichen, in den Sprachpaaren Englisch – Deutsch und Deutsch – Französisch, denn TMs können in der Regel bidirektional verwendet werden). So übersetzen wir also die Betriebsanleitung zunächst vom Englischen ins Deutsche, um dann anschließend die Übersetzung vom Deutschen ins Französische zu übernehmen. Aufgrund unserer gut gefüllten TMs profitieren wir auf beiden Wegen von hohen Matchklassen und können die bereits vorhandenen Übersetzungen zusammen mit der Fachterminologie auch im Zieltext übernehmen.
Problem also gelöst? Noch nicht ganz.
Dieser Workflow wäre zwar möglich, aber keineswegs eine nachhaltige Lösung, denn zum einen wird die Bearbeitungszeit durch den Einsatz zweier Übersetzer nun erheblich verlängert, zum anderen erhalten wir auf diesem Weg immer noch kein TM mit dem Sprachpaar Englisch – Französisch, und darüber hinaus wird die Kosteneinsparung bei der Durchführung von zwei Übersetzungen pro Prozess kaum zu spüren sein. Im Gegenteil, es könnte sogar teurer werden. Es besteht also Optimierungsbedarf.
Müssen denn tatsächlich zwei verschiedene Übersetzer eingesetzt werden? Wäre es nicht möglich, den Relais-Schritt zu automatisieren?
Diese Frage haben wir uns auch gestellt und sind zu dem Ergebnis gekommen: Ja, das ist durchaus möglich. Der Ansatz, die Übersetzung in zwei Schritten durchzuführen, bleibt derselbe – aber statt den Prozess umzustellen, modifizieren wir die TMs. Wir wissen, dass viele der deutschen Texte in beiden TMs enthalten sind, und machen uns das zunutze: Nun müssen diese Stellen nur automatisiert gefunden und die englische und französische Übersetzung einander zugeordnet werden. Die so neu zugeordneten Paare kommen in ein neues TM – voilà! Mit diesem TM kann direkt aus dem Englischen ins Französische übersetzt werden.
Wen dieses Verfahren an die beliebte stille Post erinnert, der hat nicht unrecht. Das Risiko, dass bei der Übertragung von Texten Informationen verloren gehen, ist natürlich höher, je öfter diese Texte weitergegeben wurden. Deshalb ist es essentiell, hier eine zusätzliche Kontrollinstanz einzuführen. So werden alle durch unsere Automatisierung entstandenen Satzpaare mit ganz bestimmten Metadaten ausgezeichnet und im Übersetzungsprozess automatisch einer intensiveren Prüfung durch den Übersetzer unterzogen. Erst wenn ein Satzpaar diese Kontrolle passiert hat, wird es als verlässlicher Datenbankeintrag gekennzeichnet.
Haben wir unser Ziel erreicht?
Ja – und mehr noch. Neben dem offensichtlichen Nutzen, dass bestehende TMs für Übersetzungsprozesse mit abweichender Quellsprache wiederverwendet werden können, haben wir als Nebenprodukt durch den Einsatz von Metadaten in TMs ein Modell zur Überprüfung von TM-Einträgen entwickelt. Diese Qualitätsprüfung findet unkompliziert während des Übersetzungsprozesses statt und kann immer dann eingesetzt werden, wenn bestehende Einträge revidiert werden sollen.
Am Ende atmen wir alle glücklich auf: Wir müssen nicht, wie ursprünglich befürchtet, komplett bei null beginnen und können stattdessen auf bestehende Prozesse aufbauen. Der Aufbau der TMs über die vergangenen Jahre zahlt sich aus, und neben der Qualität der Übersetzungen macht sich dies auch auf der Rechnung bemerkbar: Obwohl wir eine zusätzliche Qualitätsschleife eingeführt haben, liegen die Kosten für die Übersetzungsaufträge weit unter dem, was für eine komplette Neuübersetzung kalkuliert worden wäre.