"Die deutsche Rechtschreibung befindet sich noch immer im Wandel" (n-tv)
"Die amtlichen Orthografie-Regeln ändern sich schon wieder" (Die Welt)
Die Texter von Schlagzeilen wie diesen scheint es zu erstaunen, dass Sprache sich stetig wandelt und, wer hätte es gedacht, die Rechtschreibung ebenso. Eigentlich ist das aber nichts Neues und erstaunt niemanden, der sich mit diesem Thema schon einmal auseinandergesetzt hat – Technische Redakteure zum Beispiel. Die lesen dann auch lieber gleich die Quelle dieser Nachricht, nämlich die Pressemitteilung des Rats für deutsche Rechtschreibung vom 29.6.2017, nüchtern betitelt mit "Amtliches Regelwerk der deutschen Rechtschreibung aktualisiert".
Veränderungen des Wörterverzeichnisses
"Aktualisiert" bedeutet, dass der Rat getreu seinem Ziel, die deutsche Rechtschreibung zu beobachten und weiterzuentwickeln, ausgewählte Regeln an den beobachteten Sprachgebrauch angepasst hat. Viele Änderungen werden deshalb den meisten gar nicht auffallen, weil die aktuelle Regelung eben lediglich den allgemein längst üblichen Gebrauch abbildet: Beispielsweise wurden bei der Schreibung einiger Fremdwörter in der Praxis bisher zulässige Varianten kaum oder gar nicht genutzt. Folglich wird auch kaum jemand bemerken, dass er ab sofort nicht mehr "Komplice", "Wandalismus" und "Joga" schreiben darf. Diese Variantenschreibungen entfallen nämlich jetzt (und werden wohl auch nicht vermisst werden).
Bei der Schreibung von Substantiven, die mit "Ex-" und "Co-" bzw. "Ko-" beginnen, hat der Rat in seinem Wörterverzeichnis die Schreibung mit Bindestrich explizit aufgenommen: "Ex-Frau" neben "Exfrau", "Co-Trainer" neben "Cotrainer". (Bitte beachten: "neben" heißt, es sind beide Schreibweisen zulässig, die Zusammenschreibung wird nicht durch die mit Bindestrich ersetzt!) Auch hier wird vielen wahrscheinlich gar nicht auffallen, dass der Bindestrich an dieser Stelle bisher strenggenommen nicht regelgerecht war.
Feste Verbindungen aus Adjektiv und Substantiv
Eine weitere Änderung ist inhaltlich interessanter, betrifft den Alltag in der Technischen Redaktion allerdings kaum. Es geht um "die Schreibung des adjektivischen Bestandteils" in "festen Verbindungen aus Adjektiv und Substantiv, die als Ganzes eine begriffliche Einheit bilden" (§ 63*). Dieser Paragraph wurde jetzt umformuliert. Die Kleinschreibung des Adjektivs ist zwar immer noch die Regel. Die Fälle, in denen die Großschreibung möglich ist, werden aber genauer definiert und mit mehr Beispielen illustriert als vorher. Auch wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nicht in allen Fachsprachen von der Möglichkeit, großzuschreiben, Gebrauch gemacht wird. Zu guter Letzt hat man jetzt die Wahl zwischen Groß- und Kleinschreibung bei Funktionsbezeichnungen sowie bei Benennungen für besondere Anlässe und Kalendertage: der technische/Technische Direktor (vorher nur Großschreibung), die goldene/Goldene Hochzeit, das neue/Neue Jahr (vorher nur Kleinschreibung).
Betrifft uns das in der Technischen Redaktion? Im Arbeitsalltag nur am Rande. Diese Fälle treten zum einen selten auf, zum anderen ist die bisherige Schreibung immer noch richtig. Man hat jetzt in einigen Fällen mehr Auswahl als früher. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass viele Schreiber gerade die Varianten in Groß- und Kleinschreibung sowie Getrennt- und Zusammenschreibung eher verwirrend als hilfreich finden. Als Faustregel kann man sich also merken: Wer bei der bisherigen Praxis bleibt, macht nichts falsch. Die Funktionsbezeichnung "Technischer Redakteur (m/w)" bzw. in der Schweiz "Technischer Redaktor (m/w)" ist weiterhin korrekt, auch wenn wir in diesen Beispielen "technischer" jetzt kleinschreiben könnten.
Laut-Buchstaben-Zuordnungen
Ab sofort hat jeder Kleinbuchstabe im Deutschen auch einen entsprechenden Großbuchstaben – oder besser GROẞBUCHSTABEN! Die Diskriminierung des ß, das bei der Schreibung in Großbuchstaben durch SS ersetzt werden musste, hat damit ein Ende. Entsprechend wurde § 25 ergänzt: "Bei Schreibung mit Großbuchstaben schreibt man SS. Daneben ist auch die Verwendung des Großbuchstabens möglich. Beispiel: Straße – STRASSE – STRAẞE" Warum gibt es mal wieder zwei Wahlmöglichkeiten (STRASSE oder STRAẞE)? Der Großbuchstabe für <ß> wurde zwar bereits 2008 in ISO und Unicode kodiert und steht in den gängigen Computerschriften zur Verfügung (Unicode: Zeichencode 1E9E). Wer aber Schriften verwendet, die den Buchstaben noch nicht enthalten, oder Editoren nutzt, die keine Zeichencodes akzeptieren, wird auch weiterhin "STRASSE" schreiben müssen – und dürfen, denn falsch ist das nicht, nur eben nicht die exakte Eins-zu-eins-Entsprechung zur gewöhnlichen Schreibung. (In der Schweiz wird der Buchstabe ß schon seit Längerem nicht mehr verwendet, hier gibt es also keine Auswirkungen dieser Regeländerung.)
Die neue Regel wurde vor allem für den Behördengebrauch eingeführt. Wenn Eigennamen in Großbuchstaben geschrieben werden (was in amtlichen Dokumenten durchaus häufig vorkommt), bedeutete die Änderung von einem kleinen ß in SS genau genommen eine unzulässige Namensänderung von Amts wegen. Man konnte im Umkehrschluss denken, in Kleinbuchstaben würde der Name auch mit "ss" geschrieben. Daher wurde auch in ansonsten in Großbuchstaben geschriebenen Wörtern von vielen Behörden bisher der Kleinbuchstabe ß verwendet:
z. B. GROßMANN für Großmann.
In der Technischen Dokumentation kommt es eher selten vor, dass Wörter in Großbuchstaben geschrieben werden – von Eigennamen einmal abgesehen. Bei der Beschriftung von Schildern und Bedienelementen sieht das schon anders aus. Wenn in der Technischen Dokumentation auf solche Beschriftungen Bezug genommen wird, hat jedoch das exakte Zitieren Vorrang vor der Nutzung des Zeichens ẞ.
Wer die neuen Möglichkeiten ausschöpfen möchte, sollte deshalb in diesen Fällen an der Hardware ansetzen und beispielsweise an der Bedieneinheit die Taste [SCHLIESSEN] mit [SCHLIEẞEN] beschriften. Dann ist auch in der Dokumentation diese neue Schreibweise nicht nur möglich, sondern die bessere Lösung.
Muss man sich eigentlich an diese Regeln halten?
Mit den amtlichen Regeln der deutschen Rechtschreibung ist es in etwa so wie mit Normen: Sie sind nicht verbindlich (außer für die sogenannten "weisungsgebundenen Schreiber", das sind die Institutionen (Schule, Verwaltung), für die der Staat Regelungskompetenz hinsichtlich der Rechtschreibung hat). Die amtlichen Regeln haben aber "zur Sicherung einer einheitlichen Rechtschreibung Vorbildcharakter für alle, die sich an einer allgemein gültigen Rechtschreibung orientieren möchten (das heißt Firmen, speziell Druckereien, Verlage, Redaktionen – aber auch Privatpersonen)" (aus dem Vorwort: http://www.rechtschreibrat.com/DOX/rfdr_Regeln_2016_veroeffentlicht_2017.pdf, Hervorhebung von uns). In der Technischen Dokumentation ist die Orientierung am Regelwerk schon allein deswegen zu empfehlen, weil hier die Maxime gilt, dem Leser möglichst schnell zu den benötigten Informationen zu verhelfen. Mit vom Standard abweichenden Schreibweisen erreicht man eher das Gegenteil: der Leseprozess wird langsamer und mühsamer, im schlechtesten Fall treten Missverständnisse auf (z. B. auch im Übersetzungsprozess). Ganz abgesehen davon, dass sprachliche Richtigkeit sich positiv auf die Wahrnehmung des gesamten Dokuments, also auch seines Inhalts, auswirkt.
Den Bericht des Rats für deutsche Rechtschreibung gibt es als PDF auf dessen Website.
Ebenso das aktuelle Regelwerk sowie das aktuelle Wörterverzeichnis.
* § 64, in dem bisher die Ausnahmefälle aufgeführt wurden, in denen das Adjektiv großgeschrieben wurde, ist im neuen § 63 aufgegangen.